Was nicht gesagt wird

Meine grandiosfantastischen Ferien fühlen sich nun leider schon Lichtjahre entfernt an.
Der Schulstart war anstrengend, auch wenn mein Sohn sehr gut im Gymnasium gestartet ist. Eine Mail eine Woche des Schulstarts erreichte mich vom Prorektor und trieb mir gleich die Tränen in die die Augen, als ich las, dass er sich erkundigte, ob mein Sohn die Schule im Vorfeld schon anschauen wolle. Endlich eine Bildungsinstitution die eine Ahnung von Asperger hat und genau weiss, wo die Probleme liegen!

Das Klassenlager beamte mich dann subtio in einen Erschöpfungszustand. Da sind zwei Wochen auf dem Rad nichts gegen ein Zeltlager mit unabgestimmtem Leitungsteam. Und als ich mich langsam wieder so fatigue-technisch erholt hatte, meldete sich meine Schwester, sie müsse ins MRI wegen ihrer akuten Erschöpfung. Worauf meine Mutter im Familienchat schrieb: „Oh. Zurück auf Feld eins? Brauchst du wieder Chemo?“ Manchmal bin ich echt tierisch froh, kein Kind mehr zu sein und dort leben zu müssen.

Das MRI wurde dann gestrichen und das normale PET CT zum Abschluss ihrer Chemo gemacht. Tatsächlich war der Befund nicht toll. O-Ton Onkologe: „Ergebnis nicht so prickelnd“ Offenbar etwas auf der Leber.
Meinen inneren Film muss ich wohl nicht beschreiben. Ich glaubte jedenfalls nicht an die Möglichkeit eines Abszesses.

Erst Biopsie und dann hatte die Pathologie Mühe, herauszufinden, was es genau sei. Jedenfalls nicht das Gleiche wie zuvor.

Ich hatte am Gesprächstermin mit dem Onkologen schulfrei und begleitete sie. Weil „etwas auf der Leber“ nach Abschluss einer Chemo, da sollte niemand alleine zu so einem Gespräch.

Ihr Tumor hat nicht gestreut. Sie hat einen zweiten Tumor, einen seltenen, Neuroendokrinen. Häufigkeit 1:50’000. Wer glaubt den sowas? Wir waren wie betäubt, aber retteten uns in unseren schwarzen Humor. Die Histologie war noch nicht abgeschlossen und es musste noch rausgefunden werden, ob die sehr gute verträgliche, zielgerichtete Therapie angewendet werden kann, also ob die entsprechenden Rezeptoren vorhanden sind. Der Onkologe war aber zuversichtlich und so waren wir es auch.

Was nicht gesagt wurde: Es sind Metastasen in der Leber.
Was nicht gesagt wurde: Die Zielgerichtete Medikation ist unsere beste Option.
Was nicht gesagt wurde: Die Metastasen sind inoperabel.

Was ich nicht gefragt habe: Sind es Metastasen? Was passiert, wenn die Rezeptoren nicht vorhanden sind?

Am Abend des Gesprächs ging sie an einen Geburtstag. Und ich traf am Wochenende alle, die mir wichtig sind im Leben: Freunde von früher, die Skater hier in der Stadt, meine Brustkrebsfrauen und meine Queers. Und dann ging sie eine Woche in die Ferien und ich mit meinen Jungs.

Und ich stellte mir vor, wie sie es noch geniessen kann. Wandern, Sonne, Berge.

Als sie zurück war, kam der Bescheid, dass die gewünschten Rezeptoren nicht vorhanden sind. Wir telefonierten und leider hatte sie keine guten Ferien. Ihr Partner war krank und hustete und sie konnte kaum schlafen. Ich fragte sie, warum sie sich nicht ein zweites Zimmer genommen hätten. Sie meinte, das kostet. Und ich dachte, na und? (Ich meine, na und? Jetzt? In diesem Zustand? Hallo?). Dann erzählte sie mir von der Beule an ihrem Bauch und mir wurde schlecht.

Ich begleitete sie wieder, weil sie sonst alleine zum Gespräch hätte gehen müssen. Und weil ich das auch musste und das niemand müssen sollte. Und auch für mich, weil ich wissen wollte, was los ist. Ihr Onkologe war in den Ferien und die Vertretung sagte viel mehr, wenn auch vieles zwischen den Zeilen.

Meine Schwester warnte mich vor, sie habe ein vom Kortison aufgeschwollenes Gesicht, ich solle nicht erschrecken. Davon erschrak ich nicht, aber sie konnte kaum gehen. War ausser Atem und hatte Schmerzen. Ich versuchte, davon nicht zu erschrecken.

Was gesagt wurde: Erneut Tablettenchemo. Der Tumor sei ja nach der Chemo aufgetreten, also nütze die. Zusammen mit einer anderen per Infusion. Der Tumor sei schon gross.

Da schluckte meine Schwester und ihr wurde erstmals bewusst, dass es nicht gut ist. Nicht einfach Chemo und weg.
Sie fragte, wie viele Zyklen Chemo sie jetzt bekäme. Die Onkologin schaute abschätzend zu mir, zu ihr. Sagte, erstmal zwei, dann gebe es wieder ein Bild.

Nach einer weiteren Bildgebung warteten wir lange auf das zweite Gespräch. Meine Schwester meinte, jetzt müsse sie wohl wirklich das Testament schreiben. Ich sagte nichts darauf. Keine Witze mehr. Und sie meinte, sie hätte doch noch ihre Wohnung dekorieren wollen und nun wisse sie nicht mal, ob sie noch so lange lebe. Ich sagte ihr, dass sie jetzt noch lebe. Und jetzt dekorieren kann.

Als das Gespräch endlich stattfand, kollabierte meine Schwester fast und musste sich leichenblass hinlegen. Auf dem Bild sah man, dass der Tumor bereits in die Lunge drückt. Die Onkologie fragte, ob sie stationär bleiben wolle. Meine Schwester lehnte ab, was ich verstehe.

Ich erkundigte mich nach dem Ki-67 Wert und dachte, das kann doch nicht sein, dass ein Tumor mit so einem niedrigen Wert innerhalb von vier Wochen auf diese Grösse anwächst? Das kann nicht sein, dass die Chemo wirklich das Wachstum verhinderte?

Ich fragte nach dem Primärtumor, da inzwischen das Wort Metastasen gefallen war. Der ist unbekannt.

Was nicht gesagt wurde: Wir haben keine spezifische Therapie, sondern müssen ausprobieren.
Was nicht gesagt wurde: Sie bekommen so lange Chemotherapie, wie es wirkt.
Was nicht gesagt wurde: Wir sollten möglichst schnell mit der Chemo beginnen, sonst fällt diese Option aus.
Was nicht gesagt wurde: Sagen sie ihrem Partner, er soll in die Schweiz kommen und sie unterstützen.
Was nicht gesagt wurde: Sie können nicht mehr arbeiten.
Was nicht gesagt wurde: Wir müssen schauen, wie lange sie noch in ihrer Wohnung klar kommen.
Was nicht gesagt wurde: Geniessen sie ihr Leben. Überlegen sie, Was ihnen jetzt noch wichtig ist.

Was gesagt wurde: Wir versuchen ihn, äh, .. in Schach zu halten…
Was gesagt wurde: Die Blutwerte sind nicht so gut, überlegen sie sich, wann sie mit der Chemo beginnen wollen…
Was gesagt wurde: Ah, ihr Partner lebt nicht mit ihnen zusammen…? Plant er…..?
Was gesagt wurde: Sie leben im dritten Stock? Ohne Lift….?
Was gesagt wurde: Sie können das Arbeiten ja im Hinterkopf behalten….. als Perspektive.

Was ich nicht gefragt habe: Wie ein Tumor mit so einem Wachstumsfaktor so schnell wachsen kann.
Was ich nicht gefragt habe: Wie viel Zeit bleibt.
Was ich nicht gefragt habe: Wo ist die Palliative Care?

Was ich stattdessen gesagt habe: Können sie meiner Schwester etwas gegen die Schmerzen geben? Es reicht nicht!
Was ich stattdessen gesagt habe: Was können sie ihr zum Schlafen geben, falls die sezierende Wirkung des Schmerzmedikaments nicht ausreicht?

Wir hatten ausgemacht, dass ich die Fragen stelle, die sie zu stellen vergisst. Aber ich kann doch keine Fragen stellen, die ihr das Ausmass der ganzen Scheisse vor die Augen führen? Das darf ich doch nicht. Oder die nur meine Neugier befriedigen?

Ich fand es schon bei ihrer erst Diagnose schwierig, wie anders sie damit umging. Ich halte in der Katastrophe immer die Augen offen. Aber das machen ja viele nicht. Und sie sagte immer: Er ist ja rausoperiert, ich mache nur noch zur Sicherheit eine Chemo. Ich bin ja krebsfrei. Dass kurativ häufig von einer Lebenserwartung von fünf Jahren ausgeht, nicht von vierzig und Bauchspeicheldrüsenkrebs ein Arschloch ist, davon war nie die Rede.
Und nun kommt noch eine zweite Diagnose. Und kein Mensch spricht von Metastasen, von geniessen sie alles, was sie noch können. Das macht mich so wütend! Und als ich erfahren habe, dass ihr Partner mit der Bahn nur anderthalb Stunden Weg hat, wurde ich nochmals wütend. Warum ist er nicht hier? Warum nimmt er sich nicht frei und ist hier und steht ihr bei? LkehfjkSHÖTKAHERUKHEFG!!!!
Weil alle so tun, als werde alles wieder gut? Nein, wird es manchmal nicht. Weil Krebs ein Arschloch ist.
Und wenn doch, umso besser!
Es ist nicht meine Aufgabe, ihm das zu sagen. Und dann die zu sein, die alle Hoffnung totschlägt und sie quasi aufgibt. Warum können wir nicht einfach über das Sterben sprechen? Die Zeit, die uns bleibt. Und so auch über das Leben. Das nunmal endlich ist.
Es wäre doch so wichtig.

Die erste Chemo vertrug sie gut und offenbar sprach der Tastbefund der Onkologie für ein Ansprechen auf die Therapie. Sie sagte mir auch, sie habe sich neue NAchtischlämpchen gekauft. (Sie hört auf ihre kleine Schwester 🙂 )

Vorgestern schickte mir meine Schwester Bilder von Blutbeuteln, sie sei zur Vampirin mutiert. Die schlechten Blutwerte verlangten zwei Bluttransfusionen.
Abends kam die Nachricht sie sei im Notfall. Verdacht auf Lungenembolie, sie müsse ins CT.
Gestern die Entwarnung. Keine Embolie, aber der Tumor sei gewachsen.

Heute habe ich mit ihr telefoniert. Sie ist sehr erschöpft. Sie meinte, sie könne vielleicht heute heim. Bekomme aber evt. noch eine Bluttransfusion. Und sie habe überall Wasser eingelagert, in den Beinen, im Bauch. Sie werde halt in Socken rausgehen und sich ein Taxi nehmen, wenn sie nicht in ihre Schuhe reinkomme.

Und irgendwie klang es nicht mehr so nach Witz. Sie klang anders, vielleicht auch einfach die Erschöpfung. Ist es realistisch, dass sie so heim kann, frage ich mich.
Ich fragte mich dieses Jahr schon öfters (auch beim Großvater meiner Jungs), ob ich quasi geschädigt und pessimistisch bin oder doch realistisch?
Versteht sie ihre Situation? Was versteht überhaupt jemand von meiner Familie, in der man eh nie etwas direkt anspricht und ausspricht? Warum kann ich das nicht auch? So wie mein Bruder? Der von meiner Krebserkrankung als „medizinischer Sabbatical“ und einer „Episode“ sprach, die ja nun vorbei sei. Und der bei meiner Schwester meinte:“Ah gut. Dann kriegst du ja Chemo.“ Und vorgestern: „Gehört die Bluttransfusion zur Therapie?“

Ich habe Angst. Und ich bin wütend. Und ich bin traurig. Und wütend. Und hilflos.

Was ich ihr nicht sage: Ich habe Angst vor Weihnachten, falls du dann nicht mehr da bist.
Was ich ihr nicht sage: Was mache ich ohne dich?
Was ich ihr nicht sage: Wer ist dann meine Klagemauer, wenn du nicht mehr da bist? Meine nervige Schwester, die mir so unähnlich ist und mit der ich dennoch so viel teile?