Pinguin am Nordpol

Heute vor einem Jahr kam ich aus der Reha nachhause.
Dass der Zweitversuch der Beziehung nicht halten wird, wusste ich damals schon. Auch das Abholen war seltsam. Es fühlte sich so falsch an, wie ein Theater, das wir spielen. Wie wenn mein Ex gezwungen wäre, mich abzuholen, mir einen Empfang mit meinen Jungs zu bereiten, aber gefühlsmässig war er bereits ausgeklinkt und suchte dann nur noch den Ausweg, den Fluchtweg. 
Und obwohl ich schon wusste, dass er als Partner für das Leben mit Untiefen nicht geeignet ist. Tatsächlich hat mich keine Person je so menschlich enttäuscht, was Loyalität, Integrität und Empathie anbelangt.  Partner in Fun anstatt Partner in Crime. Und doch klammerte ich mich an die Hoffnung eines wirklich ehrlichen Gesprächs, eines Abschlusses.  Ich war es, die viel zu lange daran fest hielt, aus Schwäche, Hoffnung, Hilflosigkeit und Liebe. 
Die Hoffnung, die starb viel zu lange nicht und kostete zu viel Kraft.
Ich kam aus der Reha und war bereit für die Welt. Ausgestattet mit lauter guten Plänen und Ratschlägen und etwas Hoffnung: Schonen Sie Sich! Sorgen Sie für Auszeiten! Passen Sie auf Sich auf! Geniessen Sie und nutzen Sie ihre Ressourcen.
Drei Tage nach meiner Rückkehr verkündete der Bundesrat die Schliessung der Schulen. Fünf Tage später die Schliessung der Welt. Der Vater meiner Kinder erkrankte und die Kids waren drei Wochen nonstop bei mir. Mein Ex fand seinen Fluchtweg und ich sass da mit zwei Kindern im Lockdown.
Fast nichts ging seither nach Plan. Ausser meine Haare, die wachsen und ich bin schon echt wuschelig.
Beim letzten Friseurbesuch konnte ich mich doch tatsächlich das erste Mal entscheiden, ob ich sie kürzen möchte – ohne mich dann kahl zu fühlen – oder wachsen lassen!!!

Manchmal fühle ich mich wie ein Pinguin der am Nordpol auf einer Eisscholle steht. Er wundert sich, wie er auf dieser Erdhalbkugel gelandet ist und treibt auf seiner Eisscholle im Meer. Die Eisscholle schmilzt ihm unter den Füssen weg. Er hüpft zur nächsten, bis auch die wegschmilzt. Und so weiter.
Was klappte? Das Lymphödem, die Blockade in der Schulter und die Verspannungen von der Bestrahlung wurden dank Lymphdrainage, Physiotherapie und Osteopath massiv besser.
Was nicht? Alle Pläne, die ich in der Reha gefasst hatte. Vom Plan für die Arbeitsintegration, über Pläne, die für alle coronabedingt flach liegen.

Auch dieses Jahr fühlt sich wie 5 Jahre an. Das ist nicht mehr die gleiche Tinkakartinka wie vor einem Jahr. Den die von 2020 dachte noch, sie kehrt zurück ins Leben. Sie dachte, es gebe ein zurück, dabei gibt es nur vorwärts. Und manchmal muss sich offenbar am Umfeld ganz viel ändern, um klar zu machen, dass es kein zurück gibt, dass das Umfeld nicht bereit ist, vorwärts zu gehen und ich nicht mehr zurück kann.
Im Moment gibt es zu viele Baustellen. Eigentlich würde ja schon alleinerziehend und Corona reichen. Dazu kommen noch die 5 Diagnosen meiner beiden Kinder und meine Wenigkeit mit Fatigue und Co. Und was ist Ursache und was Folge? Wo liegt welcher Hund begraben? Das ist echt schwer zu erraten. Und das macht es auch so schwierig, das auszuhalten. 

Ich sitze auf einem Stuhl mit vier wackeligen Beinen und lehne mich mal vor, mal zurück, weil ich nicht weiss, welches Bein wohl eher das Gewicht trägt. Nun habe ich ein Bein ersetzt und für zwei andere den Schreiner kontaktiert. Aber es ist trotzdem ein zu wackeliges Gleichgewicht.
Oder wie sagte mein Therapeut so ehrlich, als ich ihn fragte, was er denn in meiner Situation tun würde?
„Verzweifeln?“

Zum Glück sind da Freunde, die mein Hadern aushalten und mir zwischendurch einen Platz auf einem stabilen Stuhl anbieten und einen Espresso dazu!

9 Gedanken zu “Pinguin am Nordpol

  1. Huhu! Hier winkt ein anderer Pinguin, der von einer schmelzenden Eisscholle zur anderen hüpft. Durchhalten! Irgendwann kommt der eine Eisberg, der groß genug ist, um uns durch zu tragen. Ganz bestimmt! 🐧

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